12.09.05
Das
Ungeheuer von Maria Laach
Von Spengler
»Kannst Du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem
Boden des Korbes küssen?«, sagt Danton zum Henker, während die Jakobiner in
Georg Büchners Stück »Dantons Tod« aufs Schafott steigen. Die abgetrennten
Köpfe im heutigen Europa küssen einander nicht, sondern beißen sich eher am
Boden des Korbes. Ich beziehe mich selbstredend auf den Ausgang des
französischen Referendums über den Vorschlag eines Europäischen
Verfassungsvertrages. Es gibt kein »da« drüben in Europa, sobald Franzosen (und
Niederländer und andere) beschließen nicht wirklich Europäer zu sein.
Brudermord ist nichts neues; immer dann wenn Europa zur
Einigung bereit schien, wählte es stattdessen die wechselseitige Zerstörung.
Mit Maximilians Wahl zum Heiligen Römischen Kaiser 1508 kam Europa seiner
Einheit am nächsten, denn durch Geschick und Glück kam seine Dynastie zur
Herrschaft über Spanien, Österreich und die Niederlande. Weniger als ein
Jahrzehnt später begann Martin Luther die Reformation, und die folgenden
Religionskriege zogen Europa hinab in einen Jahrtausendabgrund. 1914 saßen
Vettern ersten oder zweiten Grades auf allen Thronen Europas, kurz bevor der
erste Weltkrieg Alteuropa in einem Meer von Blut ertränkte.
Man könnte versucht sein, die Verwirrung in Frankreich
als eine weitere Wegmarke für den Niedergang Europas anzusehen, besonders für
jene von uns, die in Europas demographischer Todesspirale einen Verfall sehen,
der nach dem des imperialen Rom schmeckt (Why Europe chooses
extinction, April 8, 2003). Doch etwas wie Selbsterhaltungsinstinkt muß die
Franzosen angespornt haben, die europäische Verfassung niederzustimmen. Die
konservativen Parteien Europas widersetzen sich dem Dahinwesen des Kontinents
in einem multikulturellen Gemenge, das voraussichtlich von einer wachsenden
muslimischen Bevölkerung beherrscht sein wird.
Die Wahl Benedikts XVI zum Papst sollte als Katalysator
dieser Tendenzen nicht unterschätzt werden. Im Verlaufe des Jahres vor seiner
Wahl äußerte er sich ablehnend gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische
Union und dagegen, daß Europa sein kulturelles Erbe aufgibt.
In den ersten beiden Folgen dieser Beiträge (The pope, the
musicians and the Jews, and Why the beautiful
is not the good) habe ich zwei von Benedikt hervorgehobene Punkte
betrachtet: die hebräische Bibel und das klassische Erbe der europäischen
Kultur, vor allem seiner Musik. Das Problem ist, daß Europa sowohl sein
kulturelles Erbe als auch seine Juden zerstört hat, und die Werkzeuge zum
Wiederaufbau sind mehr symbolisch als real. Um zu verstehen wie dies
zustandekam, ist es nützlich, den Blick auf einen bestimmten Ort und einen
bestimmten Moment in der europäischen Geschichte zu lenken, nämlich zu einem
Kloster im Rheinland 1933.
Das Ungeheuer von Loch Ness mag ein Fabelwesen sein, aber
neben einem Kratersee in der Nähe von Trier, wo sich die Benediktinerabtei von
Maria Laach befindet, hat ein wirkliches Ungeheuer gelebt. An diesem Ort
vollzog es sich, daß ein maßgebender Flügel der Institution, die einst Europas
Kultur geschaffen hatte, die neue Nazibarbarei offen umarmte. Maria Laachs Abt
Ildefons Herwegen stellte 1933, nachdem Hitler die Macht übernommen hatte,
fest: »Lassen Sie uns von ganzem Herzen ›Ja‹ sagen zur neuen totalen
Staatsform, die durchweg einer Inkarnation der Kirche gleichkommt. Die Kirche
steht in der Welt, wie Deutschland heute in der Politik steht.«
Herwegen nahm mit offenen Armen die sogenannte
Reichstheologie oder die Theologie des Deutschen Reiches auf, zusammen mit
einer Gruppe prominenter deutscher katholischer Theologen, die in Hitler »eine
christliche Gegenrevolution gegen (die französische Revolution von) 1789«
sahen.
In mancher Hinsicht ist die gesamte Laufbahn Joseph
Ratzingers, nun Benedikt XVI, der Zurückweisung und Wiedergutmachung dieses
verheerenden Fehlers gewidmet, den auch Herwegen selber erkannte, als sich der
Naziterror ausbreitete.
Linkskatholiken haben eine kleine Industrie über der
Behauptung eingerichtet, daß der konservative Flügel der Kirche Verbindungen zu
Hitler hatte. Jahrelang wurde Dreck gegen Pius XII, den unglückseligen Papst
der Kriegsjahre geschleudert, um ihn einer schwereren Schuld als der bloßen
Furchtsamkeit im Angesicht der Nazibesatzer zu überführen. James Carrolls
Bestseller »Das Schwert Konstantins - Die Kirche und die Juden« findet den
Schurken eher in dem elenden Herwegen, doch muß er zugleich zu seiner
Verwirrung entdecken, daß er mehr mit den für Hitler eingenommenen
Benediktinern von 1933 gemeinsam hat als mit der gegenwärtigen Kirchenführung.
Wie Carroll berichtet, hatte die »Liturgiebewegung« der zwanziger Jahre die
Beteiligung der Gemeindeversammlung an der Messe eingeführt, das heißt sie
hatte das »Volk Gottes« (wer immer an der Versammlung teilnahm) zum Handelnden
gemacht. Carroll stimmt dem bei und erklärt: »Wir wohnen der Messe nicht mehr
als eine Ansammlung Isolierter bei, ein jeder oder eine jede auf den Knieen,
das Gesicht in Händen vergraben, von denen ein Rosenkranz baumelt. Wir nähern
uns Gott nicht allein, sondern als Glieder einer betenden Gemeinschaft, als
Glieder eines »Volkes«. Benedikt XVI verwirft die Messe des »Volkes« mit der
einfachen Begründung, daß Gott, statt des »Volkes«, der Handelnde in der Messe
ist. (So auch in der Predigt während der Messe
auf dem Kölner Marienfeld. SvZ).
In Amerika, wo es kein »Volk« gibt, erscheint Carrolls
Vorstellung lediglich banal. In Europa, wo das heidnische Volk in einer
Koexistenz des Unbehagens mit der Christenheit gleichzeitig fortgedauert hat,
erhielt die Liturgie des Volkes eine völkische Prägung, das heißt einen
national-rassischen Ausdruck. Die katholische Kirche hat ein Jahrtausend lang
Welle um Welle barbarischer Eindringlinge bekehrt; wie ich anderswo betont
habe, lag ihr Genius in der Anverwandlung heidnischer Heiliger und Bräuche als
eines Katalysators für die Christianisierung. Im günstigsten Falle trug das der
Kirche die prekäre Oberhand über unruhige heidnische Überbleibsel ein, die sie
sich mit Hilfe der Doppelherrschaft von Kirche und Reich vom Leibe halten
konnte.
Carroll ist ein Bostoner Journalist und ihm fehlen die
Proseminarkenntnisse zum Verständnis sowohl der deutschen als auch der
Kirchengeschichte. Er hält den Stückeschreiber Bertolt Brecht für einen Juden.
Dennoch stellt er die richtige Frage:
»Unser Interesse an der Reichstheologie geht über die
Bedeutung hinaus, die sie als eine der Quellen für die katholische Anpassung an
den Nazismus hat. Tatsächlich beschäftigt uns weniger, warum die Kirche zur
Opposition gegen den Nazismus unvermögend war, als vielmehr, wodurch es möglich
wurde, daß der Nazismus in die grundlegenden Strömungen der christlichen
Vorstellungen Eingang fand.«
Aber Carroll legt keinen besseren Schluß nahe als
daß Panik über die Bedrohung durch den Bolschewismus Herwegen und die ihm
Gleichgesinnten den Nazis in die Arme trieb. Die Linke hat es versäumt, eine
zwingende Verbindungslinie zwischen dem Nazismus und der Kirche zu ziehen; aber
ich werde eine solche Verbindung aufzeigen und bin mir dabei dessen voll
bewußt, daß diese Enthüllung die Empfindlichkeit vieler alter Freunde schwer
verletzen wird. Ich habe über diese Angelegenheit jahrzehntelang geschwiegen,
aber wir haben einen Punkt erreicht, an dem es für das Abendland nur noch eine
letzte, geringe Chance zur Umkehr gibt. Ich will geradewegs damit herausrücken
und es klipp und klar aussprechen: In Reaktion auf die französische Revolution
erfand die katholische Kirche die Methoden der Geschichtsfälschung, welche die
Nazis mit solch erschreckendem Erfolg anwendeten. Die Kirche hat dieses
Ungeheuer weder geschaffen noch es zu schaffen gewünscht - wir nennen es das
»Ungeheuer von Maria Laach« - doch sie war damit unwillentlich und tragisch verschlungen. Und genau deshalb
identifizierten die Phantasten des katholischen Mittelalters ihre Theologie und
Liturgie mit dem Nazismus von 1933. Herwegen und seine Kollegen meinten genau,
was sie sagten, und es traf genau zu.
Die Kirche hat nicht etwa ohne vorhergegangene
Provokation gehandelt. Die französischen Jakobiner zerstörten die Kirche
zugunsten eines »Kultus des höchsten Wesens«, wenige Wochen bevor sich ihre
Köpfe im Korb der Guillotine küßten.
Napoleon leerte die Klöster und machte Kathedralen
zu Pferdeställen. Als das Heilige Römische Reich Karls des Großen durch den
österreichischen Monarchen Franz I aufgelöst wurde, waren kaum noch 3000 Mönche
im ehrwürdigen Orden des Hl. Benedikt übriggeblieben. Die Antwort der Kirche
erfolgte mit all dem Geschick und all der Glut, die ihr zu Gebote stand.
Die »katholische Vorstellungswelt«, insbesondere die Form
der katholischen Vorstellungen, die den Benediktinerorden prägten, beschworen
ein ansteckendes »Zeitalter des Glaubens«, das es nie gegeben hatte. Mit der Geschicklichkeit
und der unermüdlichen Arbeit tausender Fachleute wurde das fiktive Mittelalter
mit dem Mummenschanz einer mittelalterlichen Kunstform ausgeschmückt, die es
ebenfalls nicht gegeben hatte. Das war Zweck und Inhalt der Romantik,
romantisch, weil sie eine Welt der Ritter, Troubadoure und Priester im
Interesse der katholischen Restauration halluzinierte. Die beste Darstellung
dieser Scharade bleibt immer noch die Heines, seine »Romantische Schule«[1]
Weil die
Kirche die Vergangenheit zu ihren Zwecken neu erfand, öffnete sie zugleich auch
die Büchse der Pandora: Wenn es der Religion gelang, eine nie dagewesene
nostalgische Vergangenheit zu stiften, dann konnten die Rassisten das auch. Die
Kirche hat Hitler nicht hervorgebracht, aber die Mittel, mit denen sie eine
gefälschte mittelalterliche Vergangenheit ausgesonnen hatte, machten es den
Rassetheoretikern des Nazismus leicht, ihre eigene mittelalterliche
Vergangenheit auszuhecken. Wenn es durchging, ein Zeitalter des Glaubens
auszusinnen, warum nicht dann auch ein goldenes Zeitalter der arischen
Überlegenheit?
Als die
Kirche begann, ein nicht dagewesenes »Zeitalter des Glaubens« nachzumachen,
setzte sie die ausgetüfteltste Täuschung der Geschichte in Bewegung. Gegen Ende
des 19. Jahrhunderts hatte der Benediktinerorden die aufgehobenen Klöster
wiederhergestellt (einschließlich Maria Laach 1892) und die katholische Kirche
umgestaltet. Die Werkzeuge dazu waren die Musik und die Liturgie.
Nur eine
akademische Disziplin wurde ausschließlich für diesen besonderen Zweck der
Erhaltung einer Täuschung geschaffen, nämlich die Musikologie. Ihre Aufgabe war
die »Wiederentdeckung« der verlorengegangenen, aber authentischen Musik des
Mittelalters, nämlich des gregorianischen Gesanges. In der Benediktinerabtei
von Solesmes, wiederhergestellt 1832, begannen Domprobst Gueranger und seine
Mönche ihr großes Unternehmen der musikalischen Paläontologie. Philologen
hatten bereits darüber spekuliert, daß an der Wurzel der Vielzahl von Sprachen
in Indien, Persien und Westeuropa eine ursprüngliche indo-europäische Sprache
liege. Nun suchten die benediktinischen Musikologen nach der ursprünglichen,
reinen Form des Kirchengesanges, der der Kenntnis der Kirche nach Jahrhunderten
des Verfalls verlorengegangen war. 1903 proklamierte Pius X eigenhändig
(motu proprio) die Arbeit der
Benediktiner als »ISTRUZIONE SULLA MUSICA SACRA« und machte damit die
benediktinische Gesangsweise für alle katholischen Gottesdienste obligatorisch
(vorbehaltlich besonderer Ausnahmeregelungen).
Das Problem
liegt darin, daß es eine solche reine und ursprüngliche gregorianische
Gesangsweise nie gegeben hat. Es gab im Mittelalter einen chaotischen Flickenteppich
von Stilen, die sich von Land zu Land, von Kloster zu Kloster und oft auch von
Jahr zu Jahr unterschieden. Es gab keine wiederzuentdeckende »reine
gregorianische Überlieferung«, wie moderne Musikologen festgestellt haben.
Die
romantische Rekonstruktion eines mythischen Ur-Gesangs vermengte sich mit der
rassisch-nationalistischen Suche nach den heidnischen Wurzeln der europäischen
Völker. Das zeigte sich deutlich in der ersten Abhandlung über den
gregorianischen Gesang, die von Don Gueranger aus Solesmes gebilligt worden
war, Augustin Gontiers »Methode raisonée de plain-chant«. Die Musikologin
Katherine Bergeron berichtet dazu:
Im selben
Geiste, mit dem die romantischen Philologen den Wert so vieler verschwindender
Mundarten verstanden, in deren Akzenten sie die Klänge längst verklungener
Stimmen zu unterscheiden wähnten, so stellte sich Gontier vor, daß diese
nachklingenden Melodien, wie »aus dem Schiffbruch wahrer Prinzipien« gerettete
Trümmer, Spuren der verlorenen gregorianischen Tradition enthielten. Was in
diesen Liedern gregorianisch war, hatte sich, so glaubte er, mit jener Art von
Reinheit erhalten, die sich noch fände »bei den Völker, die seit
unvordenklichen Zeiten dieselben Lieder und dieselben Worte gesungen haben,
ohne die Wohltaten irgendeiner musikalischen Ausbildung«.[2]
Heinrich Heine verspottete die katholischen Romantiker in einem
Traumzwiegespräch mit dem deutschen Kaiser Barbarossa (gestorben 1190), der
nach der Legende nicht auf dem Kreuzzug gestorben ist, sondern sich im Kyffhäuser
verborgen hält und auf das Zeichen zur Wiederherstellung Deutschlands in seinem
alten Glanz wartet. In »Deutschland, ein Wintermärchen«, bittet er Barbarossa:
Das alte
Heilige Römische Reich,
Stell`s
wieder her, das ganze,
Gib uns den
modrigsten Plunder zurück
Mit allem
Firlifanze.
Das
Mittelalter, immerhin,
Das wahre,
wie es gewesen,
Ich will es
ertragen - erlöse uns nur
Von jenem
Zwitterwesen,
Von jenem
Kamaschenrittertum,
Das ekelhaft
ein Gemisch ist
Von gotischem
Wahn und modernem Lug,
Das weder
Fleisch noch Fisch ist.
Jag fort das
Komödiantenpack,
Und schließe
die Schauspielhäuser,
Wo man die
Vorzeit parodiert
Komme du
bald, o Kaiser!«[3]
Die
Benediktiner von Solesmes waren in ihrer Suche nach einer »authentischen«
Tradition so radikal, daß sie Stabilität der kirchlichen Tradition gefährdeten.
Nachdem er die »ursprüngliche Reinheit« der Solesmer Version des Kirchengesangs
übernommen hatte, verwarf Pius X die Schule von Solesmes als Modernisten. Der
katholische Musikologe Peter Wagner warnte 1904, daß die Mönche von Solesmes
»Melodien erzeugen, die in dieser Form nie bestanden haben. Die rein
statistische Methode der Forschung nach der ›ältesten‹ Version kann logisch ins
andere Extrem umschlagen, in die Ablehnung jeder Tradition«.[4]
»Durch das Auslöschen
vorausgegangener Vorstellungen«, bemerkt dazu Bergeron, »wurde der Student der
Gregorianik zu einer tabula rasa, auf der die Vergangenheit in all ihrer
Reinheit neu eingeschrieben werden konnte«.
Im
Benediktinerkloster von Beuron unweit der deutsch-schweizerischen Grenze saßen
die engsten Korrespondenzpartner von Soresmes in Deutschland, und es waren
Benediktinermönche aus Beuron, die die 1802 aufgegebene Erzabtei Maria Laach im
Jahre 1892 wiederbesiedelten. Eine Generation darauf hieß Abt Herwegen nach
Hitlers Machtergreifung die Nazis in einem grotesken Schauspiel willkommen, das
an Mel Brooks »Frankenstein Junior« erinnert.
Allein
deswegen, weil heute ein Papst amtiert, der seine Laufbahn darangesetzt hat,
diese Angelegenheiten geradezurücken, wage ich dies hier zu berichten. Die
»Theologie der Ästhetik«, wie ich es in der letzten Folge dieser Reihe
bezeichnet habe, »Warum das Schöne nicht das Gute ist«, unternimmt den Versuch,
die wahre Hochkultur des Abendlandes für das Christentum zurückzugewinnen.
Benedikt hält selbstverständlich die Kirchenmusiktradition des Palästrina-Stils
und des gregorianischen Gesangs in Ehren, aber er richtet den Blick auf die
Musik Mozarts und Bachs als Kundgebungen des Glaubens. Die klassische Musik des
Westens erzeugt, wie ich geschrieben habe, ein Ziel in der Zeit, das heißt eine
Teleologie, die die christliche Verheißung des Lebens über das Grab hinaus
sinnlich vorstellt. Dagegen gibt es im sogenannten gregorianischen Gesang
nichts besonders Christliches, außer daß die Menschen daran gewöhnt sind, es
mit dem katholischen Gottesdienst in Verbindung zu bringen, wie Weihrauch.
Adepten des neuen Zeitalters, die in östlichen Religionen plantschen, bilden
für Aufnahmen eintöniger Weisen die größte Zuhörerschaft, denn ihre Zeitlosigkeit
und ihr Mangel an Gerichtetheit entspricht dem Beharrungszustand ihres
Bewußtseins.
Benedikt
hätte recht damit, auf die Musiker zurückzugreifen - womit ich die Hochklassik
Mozarts meine - wie auch auf die Juden, das heißt auf die hebräische Bibel. Die
Musiker sind tot und die Juden dahingegangen, doch der Papst muß das Blatt
ausspielen, das die Geschichte ihm in die Hand gegeben hat. Er arbeitet unter
dem Zeichen des Senfkorns - der unendlich kleinen Glaubensmenge, die Berge
versetzt. Der inspirierende character indelebilis der Schrift und der
klassischen Musik sind die, wenn auch angerosteten, Waffen, die er zu seiner
Verfügung hat. Es glimmt noch etwas in der Asche des Westens, und Benedikt XVI
könnte noch eine Flamme entfachen.
[1] Heinrich
Heine, Die Romantische Schule und andere Aufsätze; der Autor bezieht sich auf
die englische Ausgabe von Robert C Holub and Volkmar Sander, Herausgeber,
zitiert.
[2] Katherine Bergeron, Decadent
Enchantments: The Revival of Gregorian Chant at Solesmes (University of
California Press: Berkeley 1998). (Dekadente
Verzauberungen: Die Wiederbelebung des geregorianischen Gesangs in Solesmes)
[3] Heinrich
Heine, Deutschland, Ein Wintermärchen, Caput XVII
[4] Bergeron,
op cit, S. 152